Chancengleichheit für Pflegekinder
von Jana Bamberger, Master Studierende im Bereich „Soziologie und Sozialforschung“ an der Universität Marburg.
Durch die Aufnahme von Pflegekindern in eine Pflegefamilie sollen diese Geborgenheit, Liebe, Unterstützung und Anerkennung erfahren und dazu befähigt werden, ein selbstbestimmtes und zufriedenstellendes Leben zu führen. Auf dem Weg in eine selbstbestimmte und gleichberechtige Zukunft stellen sich Pflegekindern jedoch noch immer zahlreiche Hürden, welche diesen einen erfolgreichen Lebensverlauf erschweren oder gar unmöglich machen…
Schwierige Herkunftsverhältnisse
Pflegekinder sind durch Erlebnisse in ihren Ursprungsfamilien oftmals sehr stark geprägt und benötigen daher eine spezielle Förderung und besonders starken Rückhalt. Die meisten Pflegekinder stammen aus Familien, in denen die Eltern – oftmals auch alleinerziehende Elternteile – nicht in der Lage sind, ausreichend für ihre Kinder zu sorgen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein und erstrecken sich von persönlichen Schicksalsschlägen über physische und psychische Krankheiten oder Drogenabhängigkeit bis hin zu finanzieller Not. Oftmals häufen sich mehrere Probleme an und werden zu einer ausweglos erscheinenden Situation, in welcher die Familien keinen ausreichenden Rückhalt erfahren. Nicht selten kommt es vor diesem Hintergrund auch zu Misshandlungen der eigenen Kinder.
Die Erlebnisse in den Herkunftsfamilien führen häufig dazu, dass die Kinder Verhaltensweisen entwickeln, die ihnen helfen mit ihrer Situation zurechtzukommen. Diese Verhaltensmuster können sich für die weitere Entwicklung der Kinder und das Zusammenleben mit anderen Menschen jedoch äußerst schwierig und problematisch gestalten.
Übergangsproblematik von Pflegekindern
Insbesondere der Übergang in das Erwachsenenalter gestaltet sich für Pflegekinder oftmals als schwerwiegende Herausforderung. Junge Menschen, die eine gewisse Zeit in der stationären Erziehungshilfe oder in einer Pflegefamilie gelebt haben und sich im Übergang in das Erwachsenenalter befinden, werden hierbei als Careleaver bezeichnet. Im Gegensatz zu Jugendlichen, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können, werden Careleaver mit besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen konfrontiert. Aufgrund ihrer Erlebnisse sind sie psychisch und emotional oftmals stark belastet und verfügen über weniger stabile Beziehungen und familiäre Unterstützung, auf welche sie zurückgreifen können. So ist es dringend geboten Chancengleichheit für Pflegekinder herzustellen. Folgendes Zitat verdeutlich den Aspekt:
„Oftmals sind wechselnde Bezugspersonen und Hilfesysteme im Übergang ein riesiges Problem. Das ganze soziale Netzwerk muss einen Wechsel im Lebenslauf mittragen und oftmals sind Careleaver in dem Moment auf sich allein gestellt. Nicht jeder mit stationärer Jugendhilfeerfahrung hat solche Pflegeeltern im Rücken, die sich auch nach 18 noch für ihren Schützling verantwortlich fühlen.“ (Roxan in Familie für Kinder 2015 2018c)
Finanzielle Not
Darüber hinaus sehen sich viele Careleaver mit finanziellen Problemen konfrontiert. So müssen nahezu alle Kinder, die in Deutschland in einer Pflegeeinrichtung oder Pflegefamilie leben, 75% ihres Einkommens an das Jugendamt abgeben – unabhängig davon, ob sie arbeiten, einen Nebenjob haben, eine Ausbildung machen oder einen Bundesfreiwilligendienst oder ein FSJ absolvieren. Während der Jugendhilfe Geld anzusparen, ist für Pflegekinder demnach nahezu unmöglich, wodurch u.a. auf dem Wohnungsmarkt gravierende Nachteile für Careleaver entstehen.
„Der Übergang war furchtbar emotional. Ich war am Boden, ich war irgendwo orientierungslos und verzweifelt und mit meinem Konto total im Minus. Ich dachte oft, ich schaffe es nicht und die Kraft reicht gar nicht.“ (Rosi in Familie für Kinder 2015 2018c)
Zwar gibt es die Möglichkeit eine Befreiung/Reduzierung der Kostenheranziehung zu beantragen, dies ist vielen Jugendlichen und auch den pädagogischen Fachkräften oftmals jedoch gar nicht bekannt. Zudem ist ein Antrag auf Kostenbefreiung bzw. -reduzierung mit einem enormen Zeit- und Nervenaufwand verbunden.
Volljährigkeit = Selbstständigkeit?
Während Jugendliche, die bei ihren leiblichen Eltern leben können, ihr Elternhaus im Durchschnitt immer später verlassen, wird von Careleavern oftmals erwartet, dass sie bereits mit 18 Jahren auf eigenen Beinen stehen. Viele von ihnen werden in eine oft unzureichend geklärte Zukunft entlassen und müssen mit ihren Sorgen und Ängsten alleine zurechtkommen. Einige von ihnen suchen Hilfestellungen bei verschiedenen Leistungsträgern, werden jedoch oft aufgrund einer unklaren Zuständigkeit von den Ämtern abgewiesen.
„Das Ende der Jugendhilfe war damit klar. Alles was daraus folgte war sehr chaotisch. Ich wollte weg, hatte aber auch nicht den Mut und das Wissen, wie man das systematisch angeht.“ (Ludwig in Familie für Kinder 2015 2018c)
Wenn nach dem Jugendhilfeende größere Schwierigkeiten auftreten, können die ehemaligen Pflegekinder i.d.R. nicht zurück in ihre vorherigen Wohnheime oder Erziehungsstellen. In solchen Situationen leisten einige ehemalige Pflegefamilien Nothilfe und nehmen die Jugendlichen erneut bei sich auf. Jedoch erhalten sie für ihre Tätigkeit ab diesen Zeitpunkt kein Pflegegeld mehr und müssen auf privater Basis Leistungen abdecken, die eigentlich von öffentlichen Jugendhilfeträgern geleistet werden müssten.
„Kurz vor meinem 18. Lebensjahr wurde in Gesprächen mit meinem Betreuer vom Jugendamt deutlich, dass der 18. Geburtstag einen größeren Einschnitt in meinem Leben bedeuten würde, als für alle meine Mitschüler und Freunde, die nicht in einer Pflegefamilie oder einem anderen stationären Jugendhilfesetting aufgewachsen sind. Die meisten freuten sich mit 18 auf den Führerschein, auf Unabhängigkeit etc. Bei mir war da eher ein sehr flaues Gefühl im Magen, mir war klar, dass ich vom Gesetz her ab 18 ein Niemandskind war.“ (Roxan Familie für Kinder 2015 2018c)
Individuelle Stärken fördern
In vielen Fällen stammen die leiblichen Eltern von Pflegekindern aus einer unteren Bildungsschicht, weshalb den Kindern insbesondere die Bedeutsamkeit von Arbeit und Bildung klar gemacht werden muss. So wird Bildung von vielen Pflegekindern oftmals nicht als biographische Chance wahrgenommen, weshalb die Kinder dazu ermutigt und bestärkt werden müssen, eine gute Schullaufbahn einzuschlagen und Tätigkeiten nachzugehen, bei welchen sie die Möglichkeit erhalten ihre persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse voll zu entfalten. Somit ist die Ressourcenorientierung in der Arbeit mit Pflegekinder eine zentrale Grundlage zu mehr Chancengleichheit für Pflegekinder.
Oftmals kommt es zu Abbrüchen und Neuanfängen, bei welchen es die Pflegekinder zu ermutigen gilt, nicht aufzugeben. Da die Bildungsverläufe von Pflegekindern jedoch oftmals diskontinuierlich und wenig linear verlaufen, werden diese mit einer Reihe von Vorurteilen konfrontiert, die es zu überwinden gilt, um gleichberechtigte Bildungschancen ermöglichen zu können.
„Bei mir hieß es immer, wir sind froh, wenn die überhaupt einen Abschluss machen. Dementsprechend war es schon für manchen gewöhnungsbedürftig, dass ich jetzt länger zur Schule gehen wollte. Weil die hatten noch nie jemanden, der Abitur machen wollte. Und dann kann es ja sein, dass man ein paar Jahre zu lange zahlt für jemanden, der womöglich gar nicht seinen Abschluss macht. Das war ein Problem beim Jugendamt.“ (Onur Yamac in Hinrichs 2014)
Notwendige Maßnahmen für die Politik
Treten starke Probleme in der Übergangsphase von Careleavern auf, werden emotionale Belastungen erneut verstärkt, was wiederum zu existenzgefährdenden psychosozialen Krisen führen kann. Aus diesem Grund benötigen Careleaver eine besonders intensive Begleitung in ihrer Übergangsphase mit dem Recht auf gleiche Bildungs- und Entwicklungschancen wie andere junge Erwachsene.
Damit dies gelingen kann, müssen einige Reformen im Rahmen der Politik stattfinden und Aspekte der Jugendhilfe und der Bildungsträgern umstrukturiert werden. U.a. scheint eine bessere Zusammenarbeit der am Übergang beteiligten Behörden notwendig, damit Übergänge aus der Jugendhilfe flexibel, bedarfsorientiert und individuell gestaltet werden können.
„Es gibt unglaublich viel zum Übergang zu sagen, aber das wichtigste ist wohl, dass für jeden der für ihn individuell richtige Weg in die Verselbstständigung gefunden wird. Das Alter sollte nicht ausschlaggebend sein um zu begründen, dass jemand keine Unterstützung mehr benötigt. Die meisten haben so schlimme Erfahrungen in ihrem Leben gemacht, dass sie noch zwei, drei Jahre länger auf intensivere Hilfen angewiesen sind, um danach genauso erfolgreich ihr Leben zu meistern.“ (Roxan in Familie für Kinder 2015 2018c)
Rückhalt bieten – Visionen schaffen
Jugendhilfemaßnahmen sollten nicht beendet werden, wenn nicht klar ist, wo die Person künftig wohnen wird und wie sie sich finanzieren wird. Auf diese Weise sollen risikoreiche Übergänge vermieden werden, um das bereits Aufgebaute nicht wieder zum Einsturz zu bringen. Hierzu ist mehr Budget für die Jugendhilfe erforderlich, damit für mehr Personal für die Jugendämter gesorgt werden kann, welche in derartigen Situationen entsprechende Beratungen und Unterstützung bieten können. So lässt sich mehr Chancengleichheit für Pflegekinder herstellen.
Neben diesen Aspekten erscheint eine Überarbeitung der 75%-Regel erforderlich, damit Pflegekinder für ihre Zukunft sorgen und Geld sparen können. Nur auf diese Weise kann ihnen die Bedeutsamkeit von Arbeit und Bildung verständlich gemacht werden.
Bewusstsein für Probleme von Careleavern herstellen
Darüber hinaus muss in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Probleme von Careleavern geschaffen werden. Insbesondere Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten müssen für die brüchigen Bildungsbiographien von Careleavern sensibilisiert werden. Es muss verdeutlicht werden, dass viele Careleaver ihre Ziele trotz einiger Abbrüche und Umwege erreichen, sie oftmals nur mehr Zeit, Motivation und Unterstützung benötigen.
„Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass Care Leaver mehr im öffentlichen Bewusstsein sind oder dass überhaupt ein Bewusstsein für Care Leaver da ist und dass es Strukturen gibt und Hilfen, an die sich Care Leaver wenden können. Dass man da einfach eine Unterstützung bekommt oder es Ansprechpartner gibt oder ein Netzwerk, wie wir es gerade am Aufbauen sind, dass man sich eben dahin wenden kann.“ (Sascha Beck in Hinrichs 2014)
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Quellen
Familien für Kinder 2015 (2018a): Careleaver: „Wir können nichts für die schwierigen Startbedingungen, die uns in die Jugendhilfe gebracht haben!“, URL: https://www.careleaver-kompetenznetz.de/index.php?article_id=8, Abruf am 18.09.2019.
Familien für Kinder 2015 (2018b): Careleaver-Forderungen an die Politik, URL: https://www.careleaver-kompetenznetz.de/index.php?article_id=18, Abruf am 18.09.2019.
Familie für Kinder 2015 (2018c): Interviews mit Careleaver. URL: https://www.careleaver-kompetenznetz.de/index.php?article_id=38, Abruf am 18.09.2019
Hinrichs, Dörte (2014): Care Leaver. Der schwierige Weg in die Selbstständigkeit. URL: https://www.deutschlandfunk.de/care-leaver-der-schwierige-weg-in-die-selbststaendigkeit.1148.de.html?dram:article_id=281428, Abruf am 18.09.2019.
Schnieder, Milan (2018): Pflegekinder müssen zahlen. Eigenes Einkommen wird angerechnet. URL: https://www.zdf.de/politik/frontal-21/pflegekinder-muessen-zahlen-100.html, Abruf am 11.09.2019.
Stadt Köln (2017): Pflegekinder – Eine Aufgabe für Sie? Pflegeeltern gesucht. URL: https://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf51/pflegeeltern-gesucht.pdf, Abruf am 11.09.2019.